Kathy Page: Alphabet

  Lebenslang

Mitte der 1990er-Jahre war Kathy Page, in Großbritannien geborene und in Kanada lebende Autorin teilweise preisgekrönter Romane, für ein Jahr „Writer in Residence“ in einem britischen Männergefängnis. Vor allem die schwierige Aufgabe des Vollzugspersonals und die Frage nach der Therapierbarkeit von Gewaltstraftätern beschäftigten sie lang über ihren Aufenthalt hinaus. Der Roman Alphabet, der in eben dieser Umgebung spielt, thematisiert ihre Fragen und Gefühle aus dieser Zeit. Er erschien 2004 in Großbritannien und erst jetzt, 2021, auf Deutsch im Verlag Wagenbach.

Insasse AS2356768
Objekt von Kathy Pages psychologischer Fallstudie ist der ehemalige Teppichleger Simon Austen, der mit Anfang 20 am 2.09.1979 seine Freundin Amanda Brooks erwürgte und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Als Leserinnen und Leser begleiten wir den Insassen AS2356768 durch die ersten etwa 13 Jahre seines Aufenthalts in unterschiedlichsten Haftanstalten mit wechselnden Mithäftlingen, sehr verschiedenen Haftbedingungen und Therapieansätzen. Obwohl in der dritten Person erzählt, ist es zumeist Simons Sicht, eine sehr interessante Perspektive vor allem deshalb, weil der intelligente, meist charmante junge Einzelgänger seine Umgebung durchaus zu manipulieren versteht.

Nichts in Simons Kindheit lief nach Plan: Die suchtkranke Mutter verließ ihn als Kleinkind und nahm sich bald darauf das Leben, seinen Vater kennt er nicht, von der Pflegefamilie kam er ins Heim. Bei der Ankunft im Gefängnis kann er nur mit einem Kringel unterschreiben.

Bildung als Sprungbrett
Doch Simon ist ebenso intelligent wie ehrgeizig: Innerhalb von 18 Monaten lässt er sich von einem Helfer das Lesen und Schreiben beibringen. Nach sieben Jahren im Gefängnis schreibt er Briefe für die Mithäftlinge gegen Bezahlung, kurz darauf sucht er sich eine Brieffreundin außerhalb der Gefängnismauern:

… denn, so geht es Simon durch den Kopf, wenn Leute Briefe an Fremde schreiben, befinden sie sich am Wendepunkt zwischen zwei Lebensphasen, wie Schlangen, die sich aus einer alten, zu engen Haut kämpfen. (S. 39)

© B. Busch

Dank seiner Intelligenz lernt er aus Fehlern, ändert nach Misserfolgen die Strategie, gibt nie auf und strebt nach immer höherer Bildung. Einerseits achten ihn seine Betreuerinnen und Betreuer dafür, andererseits scheinen manche geradezu Angst vor ihm zu haben, fühlen sich von seiner Weigerung zur Teilnahme am sexualverhaltenstherapeutischen Programm herausgefordert und fürchten, von ihm manipuliert zu werden – so wie ich als Leserin übrigens auch. Allerdings erkennen alle seine langsam beginnende Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und der Straftat an:

Jahrelang war die Vergangenheit Sperrgebiet, eine Art trüber Schleier, ein schummrig beleuchteter, feuchtkalt riechender Flur irgendwo, wo niemand hinwill, mit verschlossenen Türen, wie eine Vorahnung dessen, wo er am Ende tatsächlich gelandet ist. Aber jetzt gehen ein paar Lichter an: Erinnerungen, gute, schlechte, alles Mögliche. (S. 93/94)

Ein Trans-Häftling stößt Simon ein entscheidendes Tor zur Erkenntnis auf:

„Was er getan hat, wird sich nie in Luft auflösen. Für ihn gibt es keine Scheiß-OP, klar?“ (S. 310)

Obwohl die fiktionale Geschichte im britischen Strafvollzug angesiedelt ist, ist sie doch universell, denn es geht es um so spannende Themen wie die Organisation des Strafvollzugs, Therapieansätze, Rehabilitation, Risikoprognosen, Interaktion der Häftlinge und Umgang mit eigener Schuld, die Kathy Page gekonnt in einen gut konstruierten Roman verpackt.

Kathy Page: Alphabet. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Wagenbach 2021
www.wagenbach.de

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